„Hinter den Wolken“ – taz
erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, taz. die Tageszeitung, 16.8.2019
Wir sitzen auf dem Friedhof und warten auf die Sterne. Es ist Perseiden-Nacht. Wegen eines Meteorstroms sind im August viele Sternschnuppen zu sehen, heute sollen es besonders viele sein. Der Ohlsdorfer Friedhof hat deswegen in dieser Nacht zum Sternschnuppen-Gucken die Tore offen gelassen.
Es dämmert. Auf einer runden Grasfläche mitten auf dem Friedhof haben die Friedhofsmitarbeiter Liegestühle aufgestellt – „Auszeit, Freizeit, Ewigkeit“ steht darauf. Die Laternen sind ausgeschaltet. Fledermäuse huschen durch die Luft. Radfahrer fahren leise über die Wege, sternförmig laufen Menschen von verschiedenen Seiten auf den Platz zu, breiten Decken auf dem Boden aus, flüstern, schauen in den Himmel.
Es hat etwas Rührendes, wie sich die Menschen so hoffnungsvoll auf den Weg gemacht haben. Wie die Lebenden hier bei den Toten auf der Erde liegen und in den Himmel schauen, wirkt es, als würde sich etwas verbinden – die Unfassbarkeit von Leben und Tod mit der Unendlichkeit des Alls. Eine Sehnsucht wird spürbar, die die Menschen über die Jahrhunderte verbindet. Die Sterne zu betrachten, Wünsche in den Himmel zu schicken. Dabei sind die Wetteraussichten nicht gut. Der Himmel ist bedeckt. Es soll regnen.
In der Mitte der Wiese tauchen so plötzlich zwei korpulente Gestalten auf, als wären sie gerade selbst vom Himmel gefallen. Ein Mann und eine Frau.
„Ist es hier, ist es hier?“, fragt der Mann laut. „Kann man schon was sehen?“ Niemand antwortet. Die beiden lassen sich schwerfällig auf ihre Jacken auf den Boden sinken.
Hinter uns klingt eine leise Stimme. „Wisst ihr, wo Perseus aufgeht, das Sternbild?“ Ein Mann mit Kappe steht hinter den Liegestühlen, als würde er Anschluss suchen: „Er steht im Osten habe ich im Astronomie-Radio gehört.“
„Ist hier Bramfeld-Mitte, 23 Grad?“, fragt der Mann auf der Wiese. Er schaut auf sein Handy.
„So ein Erlebnis hat man nur einmal im Leben“, sagt die Frau.
„Ne, das ist jedes Jahr“, ruft jemand aus dem Hintergrund.
„Das nächste Mal ist erst in 50 Jahren“, sagt der Mann unbeirrt. „Da wäre ich 104, das würde ich nicht erleben“, meint er, wie um zu betonen, dass er genau in zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.
Die Zeit vergeht, doch es wird nicht Nacht. Der Lichtsmog der Stadt ist so stark, dass nach 22 Uhr der Himmel milchig-hell bleibt. Nach einiger Zeit packen die ersten ein und fahren. Rote Rückleuchten von Fahrrädern schwirren davon, als wären es tanzende Friedhofslichter.
„Ich glaub, die Sternschnuppen kommen trotzdem“, sagt der Mann. Er flüstert mit der Frau. „Das darfst du doch nicht verraten“, raunt sie. „Sonst geht das nicht in Erfüllung.“ Haben sie sich etwas gewünscht? Vielleicht ist das ja genau richtig. Sich etwas zu wünschen, selbst wenn die Sternschnuppen nicht zu sehen sind. Sie sind ja trotzdem da, hinter den Wolken.
Ganz langsam wird es dunkel. Dann fängt es an zu regnen.
„Petrus, hör auf“, sagt die Frau. „Immer wenn man sich auf was freut, dann regnet es. Es wird ausfallen“, sagt sie auf einmal bitter.
Noch mehr Menschen verlassen den Platz.
„Um 23 Uhr soll die Wolkendecke etwas auflockern“, sagt nun ein Mann in einem Liegestuhl, der bislang unauffällig geblieben ist.
Er erzählt, dass er Mitarbeiter für die Öffentlichkeitsarbeit der Hamburger Friedhöfe sei: „Ausgerechnet heute ist es bedeckt“, sagt er. „Morgen schon soll es klarer sein.“ Er wirkt enttäuscht. „Aber vielleicht klappt es später. Die beste Zeit für die Sternschnuppen ist um drei Uhr morgens.“
„Wir müssen ja wieder runterkommen vom Friedhof“, sagt der Mann. „Wann fährt der letzte Bus nach Steilshoop?“
„Gleich haben wir Geisterstunde“, sagt jemand. Der Friedhofsmitarbeiter erzählt von den Uhus, die hier brüten. Er bietet dem Paar an, sie gleich über den Friedhof zum Tor zu fahren. Es regnet noch stärker. Wir brechen nun auch auf. Das Paar und der Mann von der Öffentlichkeitsarbeit bleiben unter einem Baum nebeneinander auf den Liegestühlen sitzen. Sie blicken in den Himmel. Und ich denke, sie sind die Sternschnuppen in dieser Nacht.
Foto, Friedhof Ohlsdorf: Christa Pfafferott