Der Tonfall wird rauer – taz

erschienen in der Kolumne „Zwischen Menschen“, in taz. die Tageszeitung, 28.1.2022

Unter der U-Bahn-Brücke Schanzenstraße ist die Luft diesig und kalt. Schon aus der Ferne sehe ich eine Krähe, die unter der Brücke neben dem Radweg sitzt. Sie pickt. Sie stößt mit ihrem Schnabel immer wieder in etwas Graues hinein. Es muss eine riesige Kartoffel sein. Ein weggeworfener Kumpir, ein überfahrener Döner, vielleicht auch ein Stück Obst.

Die Krähe pickt. Ich komme näher. Und obwohl ich auf alles gefasst bin, obwohl ich intuitiv ahne, dass es kein Döner und keine Kartoffel sein werden, blicke ich weiter auf die Krähe. Dann bin ich nah genug, um es zu sehen. In diesem Moment scheint alles um die Krähe herum zu verschwimmen, der Straßenlärm verklingt.

Es ist, als könnte ich das Picken der Krähe hören. Mir wird übel. Die Krähe hackt in einer Taube herum. Einer toten Taube. Mit offenem Bauch liegt sie auf dem Gehsteig. Ich muss würgen. Ich huste laut. Die Leute sehen sich nach mir um. Auf dem Weg nach Hause und den ganzen Tag hindurch lässt mich dieses Bild nicht los: das von der Krähe und der Taube.

„Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“ Ich muss an diese Redewendung denken. Krähen sollen untereinander sehr kollegial sein. Sie verhalten sich so, damit sie überleben. Ich lese nach, was Krähen fressen. Tatsächlich essen Krähen in der Natur auch kleine Tiere und Aas. Ich hatte also etwas ganz Natürliches gesehen. Vielleicht hätte ich mich auch nicht so geekelt, wenn ich diese Szene im Wald beobachtet hätte. Doch da, unter der Brücke im Schmutz, war es wie ein Bild dafür, dass die Stadt auch hart sein kann. Dass sie frisst, was stirbt. Dass in ihr die Stärkeren überleben.

Das Leben kann unendlich zärtliche Momente enthalten, aber in letzter Zeit kommt es mir vor, als würde ich zunehmend harte Szenen erleben. Die Zeiten sind rau. Aber müssen wir deswegen rau sein?

Krähen sollen untereinander sehr kollegial sein. Sie verhalten sich so, damit sie überleben

Letztens, im ICE, habe ich etwa zum ersten Mal erlebt, wie ein Mann rausgeschmissen worden ist, weil er seine Maske abgesetzt hat. Natürlich war das für die Zugbegleiterin und die anderen Reisenden nervig, beunruhigend, auch mich hat es gestört. Doch nach fast zwei Jahren Pandemie schaue ich manchmal immer noch wie aus einem großen Abstand auf uns alle, auf das, was sich geändert hat.

„Nee jetzt“, hat die Zugbegleiterin laut zu dem Mann gerufen, der anscheinend schon häufiger seine Maske abgenommen hatte.

„Raus. In Würzburg sind Sie raus!“ Würzburg war der nächste Halt in einer halben Stunde. Die Zugbegleiterin rief einen Kollegen und einen Polizisten, der im Zug war.

Sie kamen hinzu, der Polizist blieb die ganze Zeit bis Würzburg neben dem Mann stehen.

Die anderen Zugreisenden im Großraumabteil feixten still. Laut sagt niemand etwas. Und dann verließ der Mann in Würzburg in der Dunkelheit den Zug, eskortiert von einem Polizisten. Der Mann war nicht laut, er polterte nicht.

Ich habe mich gefragt, wie er wohl weiter an sein Ziel gelangen würde in dieser Nacht. Die Schaffnerin hat sich den Regeln gemäß verhalten und für den Schutz aller Zugreisenden gesorgt. Doch ich habe die Szene auch als hart empfunden. Es war keine Diskussion mehr möglich. Es gab keinen Aufschub mehr. Der Mann sollte weg. Raus. Verschwinden. Nun gibt es für alles Gründe. Es kann sein, dass die Zugbegleitern aus Erfahrung in einem harten Tonfall spricht, weil sie sich nur so durchsetzen kann. Was müssen sich Menschen in Supermärkten und in Zügen, die die Maskenpflicht durchsetzen, gerade oft alles anhören.

Und doch frage ich mich, ob alle Härte sein muss. Nur weil es mehr Regeln gibt, muss doch nicht alle Wärme verschwinden. Der freundliche Ton, der es uns erlaubt, gut durch diese Zeit zu kommen. Ich weiß nicht, warum mich die Krähe an den Zug erinnert. Die Krähen, die angeblich untereinander so kollegial sind.

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